Kirchenchor St. Pankratius Dingden
In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machte das nach der Reichsgründung im Jahr 1871 vereinte Deutschland große Fortschritte in Industrie, Handel und Wissenschaft. Zusammen mit diesem wirtschaftlichen und geistigen Aufschwung entwickelte sich auch ein neues kulturelles Bewusstsein mit einem umfassenden volkstümlichen Vereinswesen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses neuen gesellschaftlichen und kulturellen Lebens sowie der Freizeitgestaltung war die Gründung von Männerchören. Die im Jahr 1809 von Carl-Friedrich Zelter in Berlin gegründete "Liedertafel" war die Keimzelle für das Aufblühen dieser Chorbewegung. Waren es zuerst Städte und größere Ortschaften, in denen diesem Beispiel gefolgt wurde, so fanden sich auch zunehmend in kleinen Orten und auf dem Lande Gruppen zusammen, die sich dem Chorgesang widmeten. Bereits um das Jahr 1890 gab es in Deutschland über 1.000 Chöre mit insgesamt etwa 100.000 aktiven Mitgliedern.
So auch in Dingden. Im Jahr 1871 trafen sich in Dingden die 17 Sänger des Dingdener Kirchenchores zu einem Gruppenfoto. Den Grund, warum sich die 17 Herren dem Fotografen präsentierten, kennen wir nicht. Es ist auch nicht bekannt, wie lange dieser Chor bereits bestand. Setzen wir also das Jahr 1871 als Beginn der Chorgeschichte in Dingden an.
Kaplan Albers war es, der im Ersten Weltkrieg dann wegen des Männermangels einen Damenchor gründete. Im Bocholter-Borkener Volksblatt vom 13. Dezember 1917 war zu lesen: "Dingden. Zwölf Jungfrauen unserer Sodalität haben sich zu einem kirchlichen Gesangverein zusammengeschlossen, üben unter Leitung des Herrn Kaplan Albers unter Beihilfe des blinden Organisten Cruse von hier dreistimmige lateinische und deutsche Gesänge und tragen sie in der Kirche vor. Zum ersten Mal wurde am letzten Feiertag gesungen: 'Ave Maria stella' und 'Tantum ergo'. das war etwas ganz Neues, nie Gehörtes in unserer so feierarmen Kirche, ein frischer Zug in trüber, schwerer Zeit. Andere Gesänge sind in Vorbereitung für die kommenden Feiertage."
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Frauenchor durch Männerstimmen verstärkt, und so entstand 1920 ein gemischter Chor, die eigentliche Geburtsstunde des Kirchenchores in heutiger Form. Als der Dirigent, Kaplan Albers, noch im gleichen Jahr nach Duisburg-Meiderich versetzt wurde, verfiel diese Chorgemeinschaft wieder. Im Jahr 1923 fand man sich wieder zusammen und gründete einen weltlichen gemischten Gesangverein, den der Küster und Organist a. D., Ferdinand Schmitz, dirigierte. Vom Jahr 1924 an sang dieser Gesangverein auch in der Kirche. Einer der ersten kirchlichen Auftritte wird sicherlich die Einweihung der St.-Antonius-Kapelle in Nordbrock am 8. Juli 1924 gewesen sein. Pfarrer Baurichter erwähnt in seiner Chronik: "Der Choral wurde von dem Gesangverein der hiesigen Pfarrkirche gesungen." 1925 wurde dieser weltliche Gesangverein nach erregter Debatte Kirchenchor, hauptsächlich auf Betreiben des Dirigenten.
Im November 1926 trat der Chor mit einem Konzert erstmals an die Öffentlichkeit und begeisterte auf Anhieb die Zuhörer. Bereits im Sommer 1928 fand ein großes Dekanatscäcilienfest in Dingden statt, An allen kirchlichen Feiertagen erklang feierlicher Chorgesang. Jährlich gab der Chor ein weltliches Konzert. Die Chorliteratur aus der damaligen Zeit lässt erkennen, wie leistungsfähig der Chor inzwischen geworden war. Mit den Erfolgen wuchs auch die Sängerschar: Zählte der Chor am 1. Januar 1933 noch 34 Stimmen (16 Männer, 18 Frauen), waren es 1936 bereits 41 (19 Männer, 22 Frauen).
1935 trat der Chor dem Diözesanverband bei, nachdem er sich bereits 1932 dem Deutschen Sängerbund anschloss. Aus der Verbindung mit dem Sängerbund ergaben sich aber im Laufe der Jahre immer mehr Schwierigkeiten, da sich der Sängerbund in der Zeit des Nationalsozialismus ohne großen Widerstand den politischen Absichten der NSDAP unterordnete. Als Kirchenchöre im NS-Deutschland nicht mehr öffentlich auftreten durften, griffen die Dingdener zu einer List und gründeten formell einen zweiten Chor, den "Gesangverein Dingden". Kirchenchor und Gesangverein arbeiteten offiziell getrennt voneinander, waren aber faktisch ein Chor. Eine "Doppelgleisigkeit" war entstanden (= als Kirchenchor dem Diözesanverband verpflichtet, als Gesangverein dem Sängerbund verpflichtet).
So musste der Kirchenchor verschiedentlich bei weltlichen Feiern mitwirken, „die mit der Ehre eines katholischen Christen nicht in Einklang zu bringen waren“ so die Chronik. Als dem Chor dann Anfang 1938 eine Tanzveranstaltung im Anschluss an ein öffentliches Konzert verboten wurde, und der Chor im Januar 1939 bei einer NS-Weihnachtsfeier nicht gesungen hatte, kam es zum Bruch. Der Vorsitzende Franz Freesmann und Dirigent Ferdinand Schmitz wurden von der Partei verhört. Im Zuge der Ermittlungen konnte die jahrelange "Zweigleisigkeit" des Chores nicht länger geheim gehalten werden. Der Vorsitzende wurde gezwungen, sein Amt niederzulegen. Schmitz verzog aus Dingden.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch für das Chorleben tiefe Einschnitte. Viele Männer waren zum Heeresdienst einberufen, sodass die Proben nur mühsam aufrecht erhalten werden konnten. In den ersten Jahren der Nachkriegszeit litt die Chorarbeit durch häufige Dirigentenwechsel. Erst Alfons Buttermann brachte Beständigkeit und dirigierte den Chor von 1963 bis 2001.
Besonders erfreuliche Ereignisse waren 1950 die Einweihung der neuen Pfarrkirche St. Pankratius und 1974 die Fertigstellung der neuen Orgel. 1970 feierte der Chor sein 50jähriges, 1995 sein 75jähriges Jubiläum (nach dem bis dahin angenommen Gründungsjahr 1920). Höhepunkte bildeten auch der 50. und der 60. Jahrestag der Kirchweihe in 2000 und 2010.
Kirchenchor St. Pankratius Dingden im Jubiläumsjahr 2011
Groß gefeiert wurde das 140-jährige Jubiläum des Chores im Jahr 2011. Im Festgottesdienst am 9. Oktober 2011 erklang die "Orgel-Solomesse" von W. A. Mozart. Die Verleihung der Palestrina-Medaille bildete am 8. Januar 2012 den krönenden Abschluss des Jubiläumsjahres und kann als Höhepunkt in der Chorgeschichte gelten. Der Chor erhielt damit die höchste Auszeichnung, die der Allgemeine Cäcilien-Verband Deutschland für kirchliche Chöre vergeben kann. Bundesspräsident Joachim Gauck ehrte im März 2015 das lange Engagement des Chores mit der Zelter-Plakette, der höchsten staatlichen Auszeichnung für Chorgruppen.
Aber: Wie in vielen Chören sank die Mitgliederzahl in den letzten Jahren stetig. Werbung und alle Bemühungen, neue Sängerinnen und Sänger zu finden, waren erfolglos. Der Ausbruch der Corona-Pandemie verschlimmerte die Lage weiter: Das für März 2020 lange geplante Konzert mit weltlicher Musik konnte nicht stattfinden, Proben waren nicht möglich, schließlich kam der Lockdown. Der Chor ging in die Zwangspause. Aufgrund meiner zeitlichen Belastung habe ich das Dirigat Ende Januar 2021 niedergelegt.
Nachdem der hauptamtliche Kirchenmusiker der Pfarrei Maria Frieden, Michael Seibel, nach dreizehnmonatiger Arbeit seinen Dienst beendete, bereitete sich der Chor auf sein Finale vor. Es fehlte ein Dirigent und der Nachwuchs. Innerhalb der letzten 17 Jahre hatte sich der Chor halbiert. Von den zuletzt 19 Aktiven (14 Frauen, 5 Männer) waren acht 80 Jahre und älter. Das Durchschnittsalter lag bei 75 Jahren; ein hoher Altersdurchschnitt, der auch an den Stimmen nicht spurlos vorübergeht. Auf Wunsch des Chores führte ich durch die letzten Proben. Mit einem Gottesdienst am 28. Mai 2022 hat sich der Chor von der Gemeinde musikalisch verabschiedet und ist letztmalig mit "Musik für Ohr und Herz" im Gottesdienst aufgetreten. Nach 151 Jahren hat sich die Chorgemeinschaft zum 30. Juni 2022 aufgelöst.
Vorsitzende | Chorleiter | ||
1. Heinrich Volbert | 1923 - 1933 | 1. Wilhelm Kranefeld | 1871 - ? |
2. Franz Freesmann | 1934 - 1939 | 2. Adolf Keune | 1887 - 1895 |
3. Josef Schmänk | 1940 - 1955 | 3. Theodor Albers | 1920 |
4. Bernhard Ostendarp | 1955 - 1959 | 4. Ferdinand Schmitz | 1923 - 1939 |
5. Heinz Bielefeld | 1959 - 1961 | 5. Georg Jürgens | 1937 |
6. Viktor Schmänk | 1961 - 1970 | 6. Joseph Drees | 1939 - 1947 |
7. Konrad Fischer | 1970 | 7. Dr. Peter-Josef Schmidt | 1947 |
8. Hermann-Josef Fischer | 1971 - 1991 | 8. Gerhard Holtkamp | 1948 |
9. Agnes Bockting | 1991 - 1994 | 9. Albert Hawig | 1948 |
10. Hermann-Josef Fischer | 1994 - 1999 | 10. Ferdinand Schmitz | 1949 - 1951 |
11. Herbert Wolf | 1999 - 2004 | 11. Martin Klöcker | 1951 - 1956 |
12. Johannes Koopmann | 2005 - 2022 | 12. Klaus Böwering | 1956 - 1958 |
13. Johannes Mayland | 1959 - 1962 | ||
14. Alfons Buttermann | 1963 - 2001 | ||
15. Jörg Schreiner | 2002 - 2004 | ||
16. Dr. Gerd-Heinz Stevens | 2005 | ||
17. Sven Joosten | 2005 - 2021 | ||
18. Michael Seibel | 2021 - 2022 | ||
19. Sven Joosten | 2022 |